Berichte von 10/2017

Mittwoch, 18.10.2017

Eine Frage der Erziehung

 Im letzten Beitrag habe ich es schon angesprochen, dass mir die Tatsache, dass man durchgehend von Menschen umgeben ist, relativ schwer fällt. Das ist allerdings etwas Persönliches, was ich für mich selbst lernen muss. Viel gravierender für mich ist das Thema der Erziehung, da diese mit meinen Moralvorstellungen kollidiert – und das, obwohl ich doch gerade wegen diesen den Freiwilligendienst hier mache.

Dazu möchte ich gern etwas ausholen.

Während der Zeit in der unsere Vorfreiwillige noch hier war, haben Franziska und ich mit den Kindern (6 waren es zu diesem Zeitpunkt) noch in einer großen Gruppe Unterricht gemacht. Inzwischen wurden alle Kinder (es sind jetzt 7) in 3 Gruppen aufgeteilt.

Nunja, es dürfte nicht allzu schwer sein, sich das Szenario vorzustellen. Zwei neue Freiwillige, die deutlich jünger als die Vorfreiwillige sind, Sprachschwierigkeiten haben und denen generell der Plan fehlt, was jetzt eigentlich genau gemacht werden soll. Die Unsicherheit war also greifbar. Da aber Kinder entgegen der allgemeinen Annahme nicht alle Monster sind, war es sogar möglich, dass sie alle halbwegs konzentriert und ruhig gearbeitet haben.

Bis zu dem Zeitpunkt, wo Elias in den Raum gestürmt kam und voller Freude einen Sandkastenspielzeugautoirgendwas gegen die Wand hat fahren lassen. Natürlich unter ohrenbetäubendem Gebrüll – und das Schlimmste: Mit musikalischer Begleitung unserer Kinder, die davon überzeugt waren, dass Lachen die Situation perfekt untermalt. Sagt mal einem Jungen, der durch Gelächter der anderen in seinem Verhalten bestärkt wird, dass er doch bitte leise raus gehen soll. Ich bin mir sicher, dass das in der Altersgruppe schon bei Nicht-Behinderten eine Herausforderung darstellt. Aber Elias schien uns einfach nicht zu hören. Ruhiges Bitten, lauteres, bestimmtes Sprechen, das gleiche mit einem drohendem Unterton – hoffnungslos. Schreien hat übrigens auch nicht funktioniert (jaaa man soll das nicht machen, aber mit Zunahme der Verzweiflung nehmen klare Gedanken proportional ab).

Mein erster Gedanke als seine Mutter das Chaos mitbekommen hat: ,,Gott sei Dank!“. Die Erleichterung schlug dann aber viel zu schnell in eine Mischung aus Entsetzen, Mitleid und Wut um. Statt ihm deutlich zu machen warum sein Verhalten nicht angebracht ist, wurde er vor unseren Augen verdroschen. Nicht ein Klaps auf den Hintern oder eine Ohrfeige (was schon schlimm genug ist), sondern wirkliches Schlagen.

Das bekamen dann später wiederum die anderen Kinder von ihm zu spüren, da er die Schläge eins zu eins in Aggression umgewandelt hat. Wenn ich eins bisher gelernt habe, dann ist es, dass hier alle eine große Gemeinschaft sind. Natürlich gibt es Streitereien und Unstimmigkeiten, aber im Großen und Ganzen geht es hier sehr harmonisch zu. Jemand, der nicht laufen kann, holt vielleicht kein Wasser, aber spült stattdessen das Geschirr. So wird sich gegenseitig geholfen und ich habe bisher noch kein einziges Mal mitbekommen, dass bei Streitereien die Behinderungen miteinbezogen wurden. Es steht überhaupt nicht zur Debatte, dass man vielleicht aus Wut einem Anderen die Krücken klaut.

Elias hat nicht nur Krücken geklaut, sondern ist damit auch auf die anderen losgegangen. Wohlgemerkt er hat andere wehrlose Kinder geschlagen, ohne dafür auch nur irgendeinen Anlass zu haben.

Wie geht man mit so viel Aggressionspotential um? Ich habe darauf keine Antwort, höchstens Ideen, aber prinzipiell gehört so jemand in professionelle Hände, der ihm mithilfe einer Therapie die Möglichkeit gibt zu lernen, dass es neben dem Schlagen auch Handlungsalternativen gibt.

Doof nur, dass hier das Schlagen die gängige Erziehungsmethode ist. Vor Elias habe ich das nicht so mitbekommen, aber dadurch wird man natürlich darauf sensibilisiert. Ein WARUM gibt es nicht, nur ein DAS. Es muss eben einfach alles funktionieren.

In Zuge dessen haben sich die Rollstuhlkinder mit Stöcken ausgestattet, um Elias von sich fernhalten zu können. Wer kann es ihnen verdenken?

 

Es fielen immer wieder die Sätze ,,Hör auf, sonst schlägt dich Lea/Franzi.“. Ähm nein? An dieser Stelle ist bei mir eine Grenze erreicht, die ich auch auf gar keinen Fall überschreite. Ich meine, ich esse schon kein Fleisch/Fisch aus der Grundüberzeugung heraus, dass ich keinerlei Recht habe mich über ein anderes Lebewesen zu stellen. Mit dieser Überzeugung kann ich es in keinem Fall gegenüber mir selbst rechtfertigen einen Menschen zu schlagen. Besonders weil man bei Elias hervorragend sehen kann, was dieses Schlagen hervorbringt: Aggression, die abgebaut werden muss.

Wen hat man dabei als Vorbild? Die Eltern, die einem durch das Schlagen zeigen wie man diese Aggression am besten umsetzt.

 

Nichtsdestotrotz kann ich nichts an der Mentalität hier ändern. Man kann durch das Aufzeigen der eigenen Grenzen vielleicht eine gewisse Aufgeschlossenheit erzeugen, aber ändern kann (und sollte) man die Kultur nicht. Mir fiel es sehr schwer täglich zusehen zu müssen. Versteht es nicht falsch, ich rede nicht von Misshandlungen etc. Aber eben von den Drohungen oder auch von den älteren Kindern (besonders den Behinderten), die sich das zum Vorbild nehmen und sehr aggressiv auf Elias reagieren. Wie gesagt, mir tut schon die Drohung weh, weil es in keinster Weise zu meiner Lebenseinstellung passt.

Ich habe auch keinen ,,optimalen“ Weg gefunden, um damit umzugehen. Im Prinzip ist es die Frage, ob man es akzeptiert oder ob man das überhaupt nicht mit seiner Moralvorstellung vereinbaren kann und das Projekt nicht unterstützt, um es jetzt einmal sehr krass auszudrücken.

Ich habe mich dafür entschieden, die Tatsache zu akzeptieren und kann das auch mit mir selbst vereinbaren, solang nicht verlangt wird, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Neben dieses bitteren Beigeschmacks spürt man auch unheimlich viel Freude und Harmonie, die dann in jedem Fall überwiegen.

 

Elias hat sich übrigens inzwischen recht gut eingelebt, von vollkommenem Frieden kann man wohl immer noch nicht sprechen, aber er respektiert andere Menschen mit jedem Tag mehr und ist auch durchaus in der Lage ab und zu mal zuzuhören. In dem dritten Freiwilligen, der letztes Wochenende angekommen ist, scheint er seinen Meister gefunden zu haben. 🙂

 

(Den Namen habe ich übrigens wie schon in dem anderen Beitrag geändert).

Sonntag, 15.10.2017

Erst oder schon?

Erst oder schon?

Das ist die Frage, die ich mir stelle, wenn ich überlege, dass ich seit fast 7 Wochen hier in Kamerun bin. Ich würde sehr gerne ein Fazit ziehen, aber dazu ist das Erlebte viel zu vielschichtig. Wie immer und überall gibt es Hochs und Tiefs – die Frage aller Fragen ist dann nur, welches überwiegt. Momentan habe ich das Gefühl, dass es sich sehr gut ausgleicht.

Wir leben jetzt seit knapp 4 Wochen direkt im Centre. Das heißt inmitten der Kinder und der älteren Pensionäre. Somit auch inmitten der Geräuschkulisse und natürlich auch inmitten von ihren Bedürfnissen. Wenn jemand im Rollstuhl aufs Klo muss, dann ist das so, egal ob man jetzt eigentlich arbeitet oder nicht.

In der Hinsicht kann ich leider nicht das von mir erwünschte Idealbild erfüllen. Ich würde so gerne eine Person sein, die das durchgehende Zusammenleben genießt. Stattdessen war ich auch in Deutschland schon immer eher ein Mensch, der sehr darauf achtet, genug Zeit für sich selbst zu haben. Das brauche ich hier umso mehr, weil man während des Unterrichts und auch im Laufe des Nachmittags konstant von Menschen umgeben ist, die Nähe. Interesse und Aufmerksamkeit einfordern – was man ihnen natürlich auch gerne gibt. Dabei ist es wie in den meisten Fällen – es ist nicht nur ein Geben, sondern auch ein Nehmen.

 

An der Stelle möchte ich den kleinen Ulli nennen (ich ändere die Namen der Kinder einfach mal, dann kann ich mehr von ihnen erzählen). Ulli kommt immer kuscheln. IMMER. Dabei ist er schon 9 und eigentlich kein Kleinkind mehr. Aber das ist ihm egal, wenn er merkt, dass du gerne kuscheln möchtest, sitzt er in der nächsten Sekunde auf deinem Schoß, verzwirbelt deine Haare oder schläft ganz fest an dich gelehnt ein.

Oder Friedrich. Friedrich liebt sein Leben. Er ist an einen Rollstuhl gebunden und kann diesen aufgrund von Spastiken nicht alleine bewegen. Genauso Schwierigkeiten hat er mit der Sprache, wobei sich im Unterricht rausgestellt hat, dass er mental ziemlich fit ist. Friedrich freut sich darüber, wenn er aufwacht, wenn er aufs Klo geht, wenn er gewaschen wird, wenn er essen darf. Aber das allerhöchste ist für ihn der Unterricht und bei der Aussicht Mandalas malen zu dürfen kippt er vor Freude fast aus dem Rollstuhl. Abends betet er immer ganz inbrünstig, wobei das aufgrund seiner Sprachschwierigkeiten auf ein ,,Merci“ beschränkt ist. Aber mehr braucht es auch gar nicht, dieses Danke sagt alles. Obwohl er körperlich sehr eingeschränkt ist, macht er riesige Fortschritte und hat in kürzester Zeit große Teile des Alphabets schreiben gelernt. Heute ist er zum ersten Mal alleine aus dem Rollstuhl aufgestanden und hat sich in einen anderen Rollstuhl gesetzt – nur mithilfe einer Tischkante. Schon der Gedanke an ihn lässt mir das Herz aufgehen. Ich glaube, dass man von ihm bezüglich der Lebenseinstellung sehr viel lernen kann.

Das Fazit kann ich dank jahrelangem Eintrichtern jetzt doch nicht weglassen, das fühlt sich ziemlich falsch an. 😀

Prinzipiell gewöhnt man sich an alles. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich mit dem Essen soweit anfreunden kann, dass ich nicht mehr hungrig ins Bett gehe – aber tatsächlich funktioniert das inzwischen doch ganz gut. Nicht nur das Essen wird immer mehr zur Routine, sondern auch der Alltag an sich oder die Tatsache, dass nie ausreichend Wasser da ist. Aber zu diesen Themen später mehr.